Die Geschichte vom Kranich „Sebastian“


Als Leiter des Biosphärenreservates Schorfheide Chorin (1991-2008) hatte ich auf ganz unterschiedliche Weise Kontakt zum Verein FÖN e.V.
Besonders eng gestaltete sich unsere Beziehung Mitte der 1990er Jahre. Im Mittelpunkt standen dabei die Grauen Kraniche. 400 Paare brüteten zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr in unseren Erlenbruchwäldern oder in versteckten Feldsöllen, zogen dort in den ersten Wochen ihre Küken groß und führten sie im Sommer über Felder und Wiesen zur Futtersuche. Im Herbst machten sich dann alle gemeinsam auf die Reise in die Überwinterungsgebiete im Süden Europas.
Um diese Wanderer der Lüfte besser schützen zu können, trafen sich Kranichexperten regelmäßig zu internationalen Tagungen; so z.B. im Januar 1994 in Orellana la Vieja in der spanischen Extremadura. Einige tausend Kraniche nutzen den dortigen Stausee von Oktober bis Februar als Schlafgewässer. Welch wunderbarer Ort, um sich über neueste Forschungsergebnisse, Veränderungen in den Brutgebieten, neue Zugrouten und wachsende Gefahren für die Tiere auszutauschen. Darüber hinaus machten wir uns Gedanken, wie wir mehr Kinder und Jugendliche in unseren Ländern für diese wichtige Naturschutzarbeit gewinnen könnten. Mit den Verantwortlichen der Tagung von der Umweltschutzorganisation ADENEX verabredeten wir, darüber im Gespräch zu bleiben.

Gelegenheit dafür bot sich bei einer Exkursion im Februar 1996, die ich gemeinsam mit dem ADENEX-Koordinator für internationale Beziehungen, Sebastian Koerner, vorbereitete. Prof. Dr. Hartmut Ern, Stellvertretender Direktor des Botanischen Gartens Berlin, ein ausgewiesener Spanienkenner und ADENEX-Mitglied, bot sich uns als Reiseleiter an. Wir besuchten zunächst historisch bedeutsame Städte wie Trujillo, Merida und Càceress, selbstverständlich auch einige Überwinterungsgebiete unserer Kraniche. In den Dehesas - uralten Kork- und Steineichenwäldern - bekamen wir unzählige dieser Glücksvögel zu sehen. Alle blickten gespannt durch ihre Ferngläser, um Kraniche aus der Heimat zu entdecken.
An einem schönen Nachmittag saßen wir in gemütlicher Runde in der Sierra Grande in einer Finca von ADENEX bei Lammbraten und Vino tinto. „Wir sollten unseren jungen Leuten aus Brandenburg und aus der Extremadura bei gegenseitigen Besuchen auch so tolle Naturerlebnisse mit den Kranichen ermöglichen“, überlegte ich laut, ohne zu ahnen, was ich damit auslöste. Uta Greschner, eine Journalistin, brachte ihren Verein FÖN ins Spiel, der ja den Jugendaustausch organisieren könne. Sebastian Koerner, der Biologe aus Osnabrück, war ebenfalls Feuer und Flamme. So wurde bereits für den Sommer 1996 das erste Feriencamp im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin geplant. Weitere folgten. Uta Greschner und Kameramann Werner Peter drehten darüber den 30-minütige Fernsehfilm „Mit den Kranichen ziehen“.
Die jungen Extremenen und Brandenburger kamen mit großen Erwartungen in die Uckermark. Nie zuvor hatte auch nur einer von ihnen einen Jungkranich aus nächster Nähe gesehen. Einige durften deshalb in Parlow beim Beringen von Kranichen helfen.

Solange die im Frühjahr geschlüpften Vögel noch nicht fliegen können, ist es möglich, sie mit Ringen auszustatten. So lassen sich ihre Aufenthaltsorte über Ländergrenzen hinweg über lange Zeiträume verfolgen. Wichtig bei der Aktion sind schnelles Handeln und Feingefühl. Sebastian Koerner sprintete einem Jungkranich hinterher, bekam ihn zu fassen und verpasste ihm seinen „Personalausweis“. Dafür brachte er am linken Kranichbein drei blaue Farbringe an - die Kennzeichnung für Deutschland - und am rechten einen gelben, einen blauen und noch einen gelben Ring. Keine Frage, wie der Jungkranich heißen sollte: „Sebastian“ natürlich. Neben diesem absoluten Highlight erkundeten die 25 Teilnehmer per Rad, Bus und Kanu Brandenburger Großschutzgebiete immer auf der Suche nach Kranichen und ihren Lebensräumen. Diesem Kranichcamp folgten drei weitere abwechselnd in der Uckermark und in der Extremadura.
Die Krönung der Geschichte: Der Kranich „Sebastian“ lebt immer noch. Erst vor kurzem habe ich ihn mit seiner Kranich-Frau in der Nähe der Blumberger Teiche beobachtet. Er kam fast jedes Jahr zu uns zurück. Ein, zwei Mal allerdings war er ausgeblieben. Wir dachten schon, er wäre gestorben. Doch dann war er plötzlich wieder da. Mit seinen inzwischen stattlichen 25 Jahren ist er wohl der Treueste und Älteste seiner Art in unserer Region.

Eberhard Henne